Der 8. Juli ist der Stichtag für die Hochstädter Kirchweih. Fällt der 8. auf einen Sonntag, dann steht der Beginn der Feierlichkeiten von vornherein fest. Fällt er aber auf einen Wochentag, dann beginnen sie am nächsten Sonntag.
Getanzt
wurde auf den Tanzböden der vier Gastwirtschaften „Goldene Krone“, „Zum Tiger“,
„Zum Neuen Bau“ und beim „Strohl“. Das Karussell stand am Rußloch, und zwar auf
dem heutigen Parkplatz an der Ringmauer. Die Verkaufsstände waren auf beiden
Seiten der Hauptstraße und einem Teil der Bischofsheimer Straße aufgebaut.
Für das Fest waren umfangreiche Vorbereitungen zu treffen. Für
die jungen Frauen war das neue Kerbkleid das Wichtigste. Wie das Kleid aussah,
durfte vorher keiner wissen, es war ein großes Geheimnis. Neue Kerbkleider gab
es jedes Jahr, selbst wenn man aus zwei alten ein neues geschneidert hat. Wenn
die Mutter nicht nähen konnte, ließ man das Kleid von einer Schneiderin
anfertigen. Außerdem wurde geschlachtet, allerdings war das Angebot an Speisen
im Vergleich zur heutigen Gastronomie bescheiden. Es gab neben den üblichen
Hausmacher Spezialitäten nur Rinder- und Schweinebraten, Rippchen mit Kraut und Bratwürste. In den Tanzsälen und den
anliegenden Trinkstuben herrschte Weinzwang, denn der Weinbau stand damals noch
in voller Blüte. Angeboten wurde Flaschenwein in zwei Qualitäten, die Flasche kostete
eine Reichsmark und eine Mark zwanzig. Das war viel Geld, denn wir hatten in
Deutschland immerhin noch die Goldwährung.
Als Gehilfen
suchten sich die Gastwirte zwei bis drei junge Männer aus und ernannten sie zu
Kirbburschen (im Dialekt hieß die Kirchweih „Kirb“). Diese Burschen hatten
verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Sie mussten aus dem Wald Birkenbäume und
kleine Fichten besorgen. Die Birken stellte man vor den Eingängen der
Gasthäuser auf, und die Fichten befestigte man – mit bunten Papierstreifen
geschmückt – auf dem Gestänge der Wirtshausschilder. Auch eine soziale Aufgabe
war den Burschen zugedacht: sie mussten mit den Mauerblümchen, das waren
Mädchen, die keinen Zuspruch bei den Jungs fanden und traurig auf ihren Stühlen
herumsaßen, tanzen. Die Backfische (heute sagt man Teenager) saßen am Rande der
Tanzfläche. Sobald die Musik aufspielte, kamen die Tänzer und forderten sie,
mit einer artigen Verbeugung, zum Tanz auf. Holte sich ein Jüngling öfters
hintereinander dasselbe Mädchen oder tanzte er nur mit ihr allein, dann konnte
man annehmen, dass sich etwas fürs Leben anbahnte. Die Auserkorene durfte
nunmehr in einer der Trinkstuben an seiner Seite Platz nehmen. In den
Trinkstuben neben dem Tanzsaal bildeten sich schnell Tischgesellschaften. Die
geleerten Flaschen blieben auf den Tischen stehen und diejenige Gruppe, die bis
zur Abendpause nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit, also Anzahl der
Personen bezogen auf geleerte Flaschen, das meiste getrunken hatte, konnte sich
als Sieger fühlen.
Mein
Vaterhaus ist die „Goldene Krone“, ich kann also nur von dem berichten, was
dort geschah. Seit vielen Jahren spielten Musiker der Militärkapelle der 6er
Ulanen aus Hanau während der Festtage zum Tanz auf. Sie kamen in ihren
schmucken Uniformen und da in der wilhelminischen Zeit zweierlei Tuch hoch im
Kurs stand, war der Zustrom der weiblichen Jugend erheblich. Nun passierte es,
dass der Kapellmeister am ersten Kerbsonntag in einem bekannten Bad ein großes
Konzert gab. Da er keinen seiner Männer entbehren konnte, verpflichtete er
einen Musikverein aus Großauheim, die Tanzmusik zu übernehmen. Er vergaß aber
zu erwähnen, dass die Hochstädter nur Blechmusik hören wollten. Nichts ahnend
kamen die Musiker mit Streichinstrumenten und Klarinetten an. Nach dem zweiten
Tanz war der Saal wie leergefegt. Der Wirt und die Musikanten waren nun in
großer Verlegenheit. Es blieb nichts anderes übrig, als den Pferdeburschen mit
der Kutsche nach Auheim zu schicken, um die Blechinstrumente zu holen. Als
später die Trompeten durch den Saal schmetterten, waren wieder alle Tänzer
zurück.
Die Kirchweih
spielte sich an drei Tagen ab, am Sonntag, am Mittwoch und am nächsten Sonntag.
Die Hochstädter blieben am liebsten unter sich, dementsprechend lautete der
Schlachtruf: „Wenn is die Kirb, die Kirb is uns“. Zur Nachkerb, wenn die
Geldbeutel der Einheimischen geschröpft waren, sahen es die Wirte und die
Musiker allerdings doch gerne, wenn Gäste aus den Nachbargemeinden kamen.
Besonderer Erwähnung bedarf der Kerbmittwoch. Die Militärmusiker kamen schon
ziemlich früh. Sie machten einen Rundgang durchs Dorf und brachten jedem
Großbauern ein Ständchen. Zum Dank wurden ganze Speckseiten, Hausmacher Würste
und andere zum Verzehr geeignete Sachen herausgereicht. An Heugabeln
aufgehängt, trug man sie im Triumphzug mit sich herum. Besonders spendabel war ein
Bauer, den man Ulaner nannte. Er war stolz auf die Musiker des Regiments, in
dem er drei Jahre „abklopfen“ musste. Diese konnten mit den Spenden wochenlang
ihr Kasernenessen strecken.
Auch eine
Feuerwehrübung gehörte zur Tradition. Ich erinnere mich gut an den folgenden
Zwischenfall: ein rücksichtsloser Autofahrer hatte die Absperrung der
Hauptstraße ignoriert und war durch das Publikum hindurch an der Feuerspritze
vorgefahren. Der Mann am Stahlrohr machte einen kurzen Schwenk und ein Schwall
Wasser ergoss sich in das offene Auto. Das Fahrzeug hielt an und der Begleiter
eines holländischen Konsuls entstieg dem Wagen. Er protestierte und drohte mit
einer Anzeige. Aber es kam keine. Der Herr Konsul wurde sicherlich belehrt,
dass er im Unrecht war und die Absperrung hätte respektieren müssen. Nach der
Übung wurden die aktiven Wehrmänner mit Bratwürsten und Getränken bewirtet, und
zwar reihum, jedes Jahr von einem anderen Gastwirt.
Die
Militärmusiker gaben nach dem Mittagessen ein volkstümliches Konzert und ab
vier Uhr spielten sie wieder zum Tanz auf. Feierabend war um zwei Uhr nachts.
Der letzte Tanz war immer ein Galopp. Getanzt hat man damals Walzer, Polka,
Dreher und Schnicker, auch „Siesde net do kimmte“ durfte nicht fehlen. Wenn
gegen Ende die Tanzbegeisterung nachließ, versuchte man die müden Kumpane
wieder aufzumuntern, indem man einen Kusswalzer einlegte. In den Städten kamen
inzwischen neue Tänze auf, darunter der Schieber.
Dieser Tanz wurde als unsittlich empfunden und in den Sälen hängte man
behördlicherseits Schilder mit der Aufschrift „Schieber und Wackeltänze
verboten“ auf.
Als sich
Hochstadt mehr und mehr zur Arbeiterwohnsiedlung entwickelte, traten die
Pendler an die Wirte heran und baten, den Weinzwang fallen zu lassen. Das
geschah dann auch, denn der Weinbau war schon am Sterben. Immerhin konnte man
sich nun statt einer Flasche Wein zehn Schoppen Äbbelwei oder ebenso viele
Bierchen leisten.
Zum
Abschluss der Kerb wurde symbolisch ein ausgestopfter Kerbbursch begraben.
Diese Zeremonie wurde argwöhnisch überwacht, damit die Grabrede nicht in
Gotteslästerung ausartete.
Im 18.
Jahrhundert, etwa 1750 und früher, als noch kein größerer Saal zur Verfügung
stand, feierte man die Kirmes im Freien auf dem „Daanzplacke“ (Tanzplacken), so nannten wir alten
Hochstädter den Platz, der heute Am
Rathaus heißt. Die Familien brachten Tische und Bänke, das Essen und den
Wein von zuhause mit. Musikanten spielten auf, man sang und tanzte. Bei
schlechtem Wetter zog man sich in den Rathaussaal zurück, das war der einzige
größere Raum im Dorf. Als das Gemeindewirtshaus, das heutige Anwesen Erdmann
(Hauptstraße 19) aufgelöst wurde, gab es nur noch zwei Wirtschaften, nämlich
die „Goldene Krone“ und gegenüber die Gastwirtschaft „Zum Tiger“, beide auf der
Hauptstraße. Das Gasthaus „Zum Neuen Bau“ und die „Strohlche Gaststätte“ wurden
nach 1866 außerhalb der Festungsmauer gebaut, was vorher nicht erlaubt war. In
diesem Jahr wurde Hochstadt preußisch und hörte auf, eine Festung zu sein.
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