Montag, 4. August 2014

Die Hochstädter Kerb vor über hundert Jahren

...und hier noch ein Bericht von Wilhelm Rauch, den mir seine Tochter Marianne Schick zur Verfügung gestellt hat:




Der 8. Juli ist der Stichtag für die Hochstädter Kirchweih. Fällt der 8. auf einen Sonntag, dann steht der Beginn der Feierlichkeiten von vornherein fest. Fällt er aber auf einen Wochentag, dann beginnen sie am nächsten Sonntag.

Getanzt wurde auf den Tanzböden der vier Gastwirtschaften „Goldene Krone“, „Zum Tiger“, „Zum Neuen Bau“ und beim „Strohl“. Das Karussell stand am Rußloch, und zwar auf dem heutigen Parkplatz an der Ringmauer. Die Verkaufsstände waren auf beiden Seiten der Hauptstraße und einem Teil der Bischofsheimer Straße aufgebaut.

Für das Fest waren umfangreiche Vorbereitungen zu treffen. Für die jungen Frauen war das neue Kerbkleid das Wichtigste. Wie das Kleid aussah, durfte vorher keiner wissen, es war ein großes Geheimnis. Neue Kerbkleider gab es jedes Jahr, selbst wenn man aus zwei alten ein neues geschneidert hat. Wenn die Mutter nicht nähen konnte, ließ man das Kleid von einer Schneiderin anfertigen. Außerdem wurde geschlachtet, allerdings war das Angebot an Speisen im Vergleich zur heutigen Gastronomie bescheiden. Es gab neben den üblichen Hausmacher Spezialitäten nur Rinder- und Schweinebraten, Rippchen mit Kraut  und Bratwürste. In den Tanzsälen und den anliegenden Trinkstuben herrschte Weinzwang, denn der Weinbau stand damals noch in voller Blüte. Angeboten wurde Flaschenwein in zwei Qualitäten, die Flasche kostete eine Reichsmark und eine Mark zwanzig. Das war viel Geld, denn wir hatten in Deutschland immerhin noch die Goldwährung.

Als Gehilfen suchten sich die Gastwirte zwei bis drei junge Männer aus und ernannten sie zu Kirbburschen (im Dialekt hieß die Kirchweih „Kirb“). Diese Burschen hatten verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Sie mussten aus dem Wald Birkenbäume und kleine Fichten besorgen. Die Birken stellte man vor den Eingängen der Gasthäuser auf, und die Fichten befestigte man – mit bunten Papierstreifen geschmückt – auf dem Gestänge der Wirtshausschilder. Auch eine soziale Aufgabe war den Burschen zugedacht: sie mussten mit den Mauerblümchen, das waren Mädchen, die keinen Zuspruch bei den Jungs fanden und traurig auf ihren Stühlen herumsaßen, tanzen. Die Backfische (heute sagt man Teenager) saßen am Rande der Tanzfläche. Sobald die Musik aufspielte, kamen die Tänzer und forderten sie, mit einer artigen Verbeugung, zum Tanz auf. Holte sich ein Jüngling öfters hintereinander dasselbe Mädchen oder tanzte er nur mit ihr allein, dann konnte man annehmen, dass sich etwas fürs Leben anbahnte. Die Auserkorene durfte nunmehr in einer der Trinkstuben an seiner Seite Platz nehmen. In den Trinkstuben neben dem Tanzsaal bildeten sich schnell Tisch­gesellschaften. Die geleerten Flaschen blieben auf den Tischen stehen und diejenige Gruppe, die bis zur Abendpause nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit, also Anzahl der Personen bezogen auf geleerte Flaschen, das meiste getrunken hatte, konnte sich als Sieger fühlen.

Mein Vaterhaus ist die „Goldene Krone“, ich kann also nur von dem berichten, was dort geschah. Seit vielen Jahren spielten Musiker der Militärkapelle der 6er Ulanen aus Hanau während der Festtage zum Tanz auf. Sie kamen in ihren schmucken Uniformen und da in der wilhelminischen Zeit zweierlei Tuch hoch im Kurs stand, war der Zustrom der weiblichen Jugend erheblich. Nun passierte es, dass der Kapellmeister am ersten Kerbsonntag in einem bekannten Bad ein großes Konzert gab. Da er keinen seiner Männer entbehren konnte, verpflichtete er einen Musikverein aus Großauheim, die Tanzmusik zu übernehmen. Er vergaß aber zu erwähnen, dass die Hochstädter nur Blechmusik hören wollten. Nichts ahnend kamen die Musiker mit Streichinstrumenten und Klarinetten an. Nach dem zweiten Tanz war der Saal wie leergefegt. Der Wirt und die Musikanten waren nun in großer Verlegenheit. Es blieb nichts anderes übrig, als den Pferdeburschen mit der Kutsche nach Auheim zu schicken, um die Blechinstrumente zu holen. Als später die Trompeten durch den Saal schmetterten, waren wieder alle Tänzer zurück.

Die Kirchweih spielte sich an drei Tagen ab, am Sonntag, am Mittwoch und am nächsten Sonntag. Die Hochstädter blieben am liebsten unter sich, dementsprechend lautete der Schlachtruf: „Wenn is die Kirb, die Kirb is uns“. Zur Nachkerb, wenn die Geldbeutel der Einheimischen geschröpft waren, sahen es die Wirte und die Musiker allerdings doch gerne, wenn Gäste aus den Nachbargemeinden kamen. Besonderer Erwähnung bedarf der Kerbmittwoch. Die Militärmusiker kamen schon ziemlich früh. Sie machten einen Rundgang durchs Dorf und brachten jedem Großbauern ein Ständchen. Zum Dank wurden ganze Speckseiten, Hausmacher Würste und andere zum Verzehr geeignete Sachen herausgereicht. An Heugabeln aufgehängt, trug man sie im Triumphzug mit sich herum. Besonders spendabel war ein Bauer, den man Ulaner nannte. Er war stolz auf die Musiker des Regiments, in dem er drei Jahre „abklopfen“ musste. Diese konnten mit den Spenden wochenlang ihr Kasernen­essen strecken.

Auch eine Feuerwehrübung gehörte zur Tradition. Ich erinnere mich gut an den folgenden Zwischenfall: ein rücksichtsloser Autofahrer hatte die Absperrung der Hauptstraße ignoriert und war durch das Publikum hindurch an der Feuerspritze vorgefahren. Der Mann am Stahlrohr machte einen kurzen Schwenk und ein Schwall Wasser ergoss sich in das offene Auto. Das Fahrzeug hielt an und der Begleiter eines holländischen Konsuls entstieg dem Wagen. Er protestierte und drohte mit einer Anzeige. Aber es kam keine. Der Herr Konsul wurde sicherlich belehrt, dass er im Unrecht war und die Absperrung hätte respektieren müssen. Nach der Übung wurden die aktiven Wehrmänner mit Bratwürsten und Getränken bewirtet, und zwar reihum, jedes Jahr von einem anderen Gastwirt.

Die Militärmusiker gaben nach dem Mittagessen ein volkstümliches Konzert und ab vier Uhr spielten sie wieder zum Tanz auf. Feierabend war um zwei Uhr nachts. Der letzte Tanz war immer ein Galopp. Getanzt hat man damals Walzer, Polka, Dreher und Schnicker, auch „Siesde net do kimmte“ durfte nicht fehlen. Wenn gegen Ende die Tanzbegeisterung nachließ, versuchte man die müden Kumpane wieder aufzumuntern, indem man einen Kusswalzer einlegte. In den Städten kamen inzwischen neue Tänze auf, darunter der Schieber. Dieser Tanz wurde als unsittlich empfunden und in den Sälen hängte man behördlicherseits Schilder mit der Aufschrift „Schieber und Wackeltänze verboten“ auf.

Als sich Hochstadt mehr und mehr zur Arbeiterwohnsiedlung entwickelte, traten die Pendler an die Wirte heran und baten, den Weinzwang fallen zu lassen. Das geschah dann auch, denn der Weinbau war schon am Sterben. Immerhin konnte man sich nun statt einer Flasche Wein zehn Schoppen Äbbelwei oder ebenso viele Bierchen leisten.

Zum Abschluss der Kerb wurde symbolisch ein ausgestopfter Kerbbursch begraben. Diese Zeremonie wurde argwöhnisch überwacht, damit die Grabrede nicht in Gotteslästerung ausartete.

Im 18. Jahrhundert, etwa 1750 und früher, als noch kein größerer Saal zur Verfügung stand, feierte man die Kirmes im Freien auf dem „Daanzplacke“  (Tanzplacken), so nannten wir alten Hochstädter den Platz, der heute Am Rathaus heißt. Die Familien brachten Tische und Bänke, das Essen und den Wein von zuhause mit. Musikanten spielten auf, man sang und tanzte. Bei schlechtem Wetter zog man sich in den Rathaussaal zurück, das war der einzige größere Raum im Dorf. Als das Gemeinde­wirtshaus, das heutige Anwesen Erdmann (Hauptstraße 19) aufgelöst wurde, gab es nur noch zwei Wirtschaften, nämlich die „Goldene Krone“ und gegenüber die Gastwirtschaft „Zum Tiger“, beide auf der Hauptstraße. Das Gasthaus „Zum Neuen Bau“ und die „Strohlche Gaststätte“ wurden nach 1866 außerhalb der Festungsmauer gebaut, was vorher nicht erlaubt war. In diesem Jahr wurde Hochstadt preußisch und hörte auf, eine Festung zu sein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen